Kontext: Wortprotokoll über die 51. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt am Donnerstag, den 28. Januar 2021 (16.01 Uhr bis 21.34 Uhr), TOP 3, 47. Fragestunde.
Stadtverordneter Martin Kliehm, Fraktion DIE LINKE. im Römer:
Sehr geehrte Menschen!
Jüdisches Leben in Deutschland ist geprägt von Unkenntnis der Mehrheitsgesellschaft. Warum fand die letzte Plenarsitzung am ersten Chanukkaabend statt? Wer von Ihnen weiß eigentlich, worum es beim erwähnten Laubhüttenfest geht? Hand aufs Herz: Wer von Ihnen wusste vor dem Anschlag in Halle, dass Jom Kippur der höchste jüdische Feiertag ist?
Aber jüdisches Leben in Deutschland ist auch geprägt vom Othering, der Ausgrenzung. Die Juden waren zu arm oder zu reich, zu assimiliert oder nicht integrationswillig, Schuld am „Gottesmord“, an Pornografie, am Kapitalismus und Kommunismus, beschreibt Dariusz Libionka den Schlamassel. Und selbst im Jahr 2019 greift Der Spiegel in seiner Ausgabe über jüdisches Leben in Deutschland auf das Klischee der Juden mit den Schläfenlocken zurück und übernimmt die Sprache der Täter mit der Titelzeile „Jud, bittersüß“.
Mit Judentum in Deutschland verbunden waren auch immer wieder Verleumdungen, Vertreibungen, Pogrome, wie Rabbiner Soussan beschreibt. Mit der jüdischen Emanzipation in Frankfurt kamen dann auch die modernen Antisemiten. Es gründeten sich in Reaktion darauf anti-antisemitische Abwehrvereine wie der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ oder der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“, die auf juristischer und journalistischer Ebene gegen Antisemitismus vorgingen, oder zusammen mit dem Reichsbanner der SPD Aufmärsche und Veranstaltungen der Nazis sprengten. Dennoch hält sich bis heute der Glaube, die Juden hätten einfach zu wenig getan gegen die Nazis oder hätten die Gefahr durch den Nationalsozialismus verkannt, weil sie selbst „zu deutsch“ gewesen seien. Selbst hier ist wieder der Vorwurf, zu passiv oder zu angepasst gewesen zu sein.
Dr. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, kritisiert zu Recht, dass viele Menschen mit Judentum ausgerechnet nur jene zwölf Jahre assoziieren, in denen kein normales jüdisches Leben mehr stattfinden konnte und die europäischen Juden fast vollständig ausgerottet wurden. Jüdisches Leben ist aber mehr als mit trauriger Klarinettenmusik untermalte Schwarz‑Weiß-Bilder.
Und doch gibt es normales jüdisches Leben in Deutschland bis heute nicht. Meine gute Freundin Marina Weisband beschrieb gestern im Bundestag: Heute gehe ich zum Gebet durch Sicherheitskontrollen. Ich lese aufmerksam die Zeitung und ich beobachte angespannt die Stimmung im Land.
Wo andere gedenken, erinnern sich Jüdinnen und Juden, was ihren eigenen Familien widerfahren ist. Das Trauma vererbt sich über die Generationen.
Der Kampf gegen Antisemitismus geschieht noch zu zaghaft. Polizei und Militär sind unterwandert von Rechtsextremen. Antisemitismus wird externalisiert statt als urdeutsches Problem begriffen. Vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestufte Parteien wollen einen Schlussstrich ziehen und die Frankfurter FDP verteidigt den Boykott gegen israelische Waren, Kultur und Dialoge. Marina Weisband sagt: „Erst, wenn wir dies überwunden haben, erst dann kann irgendwann eine jüdische Kultur gelebt werden, die mit einer schlichten Selbstverständlichkeit behandelt wird. Erst dann kann jüdisches Leben zur Normalität werden.“ Das wünsche ich mir für die nächsten 1700 Jahre.
[weitere Redebeiträge anderer Stadtverordneter, siehe Wortprotokoll]
Ja, Herr Dr. Schulz, da hätten Sie mir zuhören müssen. Ich habe nicht gesagt, dass Sie sich die Themen zu eigen machen, sondern ich sagte, die FDP verteidigt BDS, und das haben Sie auch gerade wieder getan.
Und, lieber Bernhard Ochs, auch Charlotte Knobloch hat gestern im Bundestag angesprochen, dass dschihadistischer Antisemitismus ein Problem darstellt, aber verlieren wir doch das eigentliche Problem nicht aus dem Fokus: Deutschland ist die Mutter des Antisemitismus. Wir brauchen ihn nicht zu importieren, er war schon immer hier, der moderne Antisemitismus wurde hier erfunden und über 20 Prozent der Bevölkerung stimmt antisemitischen Klischees heute noch zu.
Und auch, wenn jetzt vielleicht Peter Feldmann wieder sagt, Frankfurt hat eine alte Tradition, andere Völker hier leben zu lassen. Auch in Frankfurt gab es Pogrome, 1241 und 1349 die Judenschlachten, 1614 gab es die Fettmilch‑Pogrome. Erst unter Napoleon haben sie gleiche Rechte bekommen, die dann Jahre später wieder zurückgenommen wurden. 1848 kam die erste Emanzipation, dann wurde sie wieder zurückgenommen. Und dann erst 1864 kam es in Frankfurt zur Gleichstellung.
Das heißt auch, wir dürfen es nicht externalisieren. Antisemitismus ist ein deutsches Problem, und wir müssen es benennen. Auch wenn es unbequem ist, auch wenn es bei der Polizei vorkommt, was manche hier nicht hören möchten. Und auch, das gebe ich zu, wenn es bei dem eigenen Studierendenverband vorkommt: auch das müssen wir benennen, wenn es auch unbequem ist. Denn was nicht funktioniert, ist, dass wir es externalisieren auf „die“ Ausländer oder „die“ Geflüchteten. Wir müssen uns damit auseinandersetzen. Und wenn wir eines aus der Geschichte gelernt haben, lieber Bernhard, dann ist es, dass die Ausgrenzung von einer Minderheit nicht durch die Ausgrenzung einer anderen aufgehoben wird.
Danke sehr!