Machbarkeitsstudie zum Nulltarif

Produktbereich: 16 Nahverkehr und ÖPNV
Produktgruppe: 16.11 Förderung Öffentl. Personennahverkehr

Die Stadtverordnetenversammlung möge beschließen:

  1. Im Doppelhaushalt 2015/2016 werden die erforderlichen Mittel eingestellt, um eine Machbarkeitsstudie zur Einführung eines benutzerunabhängig finanzierten Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) im Tarifgebiet 50 in Auftrag zu geben.
  2. Die Machbarkeitsstudie soll:
    1. Aspekte der praktischen Umsetzung betrachten und hierbei die Frage in den Mittelpunkt stellen, welche (positiven und negativen) Anreize als flankierende Maßnahmen nötig wären, um eine möglichst effektive Verlagerung des Verkehrsaufkommens vom motorisierten Individualverkehr (MIV) auf den ÖPNV zu bewirken. Zu den positiven Anreizen zählen beispielsweise verbesserte Taktung, Strecken- und Haltestellenausbau sowie flankierende Maßnahmen wie Förderung von park&ride-Angeboten, Rufbussystemen, Carsharing und Taxiservice, Ampelvorrangschaltungen, Sonderfahrstreifen, verbessertes Qualitätsmanagement, mehr Komfort, Ausbau der Fuß- und Radwege. Zu den negativen Anreizen zählen beispielsweise eine veränderte Parkraumbewirtschaftung, (Durch-)Fahrverbote und verlängerte Rotphasen.
    2. die Mindereinnahmen, durch Strecken- und Qualitätsausbau und weitere Investitionen entstehende Kosten sowie die zu erwartenden Einsparungen im Bereich der Betriebskosten ausweisen.
    3. unter anderem folgende (Re-)Finanzierungsideen intensiv beleuchten:
      1. Etablierung eines Erschließungstatbestandes ÖPNV analog zur Finanzierungsregelung bei Straßenerschließungen
      2. Einrichtung einer kommunalen Infrastrukturabgabe nach § 11 Kommunalabgabengesetz, bei der die Anbindung an das Streckennetz des ÖPNV Berücksichtigung findet
      3. Einführung einer Nahverkehrsabgabe als Unternehmenspauschalabgabe, z. B. wie die in Frankreich übliche Transportsteuer taxe versement transport [1], jedoch gekoppelt an die Wertschöpfung (Messbetrag: Umsatzsteuer)
      4. Einführung einer Nahverkehrsabgabe in Form einer Pauschale (kommunale Aufwandssteuer) pro Bett und Übernachtung für Gäste von Beherbergungsbetrieben gemäß § 7 Abs. 2 Gesetz über kommunale Abgaben (KAG)
      5. Einführung einer sozialverträglichen Citymaut nach dem Vorbild von z. B. Stockholm und London
      6. Einnahmesteigerungen durch eine veränderte Parkraumbewirtschaftung

Begründung

Ein benutzerunabhängig finanzierter ÖPNV verbindet Klimaschutz mit Teilhabegerechtigkeit. Er wirkt gegen soziale Ausgrenzung an den Rand gedrängter Gruppen im Sinne eines nachhaltigen sozial-ökologischen Stadtumbaus.

In Frankfurt wird die soziale Spaltung immer deutlicher. Laut einer Studie des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln[2] leben fast ein Viertel der Menschen in Frankfurt in (kaufkraftbereinigter) Einkommensarmut. Für sie ist die Frage sozialer, kultureller und politischer Teilhabe längst eine des Geldbeutels. Hohe Fahrpreise stellen dabei eine weitere Einschränkung ihrer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben dar. Dabei ist Mobilität ein Grundrecht und kein Luxusartikel.

Ein benutzerunabhängig finanzierter Nahverkehr reduziert zudem die Zahl des motorisierten Individualverkehrs – also der Autos – in der Stadt, und ist daher für alle Frankfurterinnen und Frankfurter von Nutzen; auch für diejenigen, die nicht auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen. Die Luftqualität würde verbessert, die Lärmbelastung reduziert. Vor allem für diejenigen Frankfurterinnen und Frankfurter, die an den Einfallstraßen und Pendlerrouten wohnen, wäre weniger motorisierter Individualverkehr eine große Entlastung.

Die existierenden internationalen Erfahrungen sollten Anregung genug sein, über einen benutzerunabhängig finanzierten ÖPNV und dessen konkrete Ausgestaltung nachzudenken. Untersuchungen über Auswirkungen und Umsetzung eines benutzerunabhängig finanzierten ÖPNV liegen vor, können jedoch – aufgrund der großen regionalen Unterschiede in Bezug auf die Verbundstrukturen, Finanzierungsgrundlagen und Verkehrssituation – nur eingeschränkt übertragen werden.

Innerhalb des Stadtgebietes würden durch den Rückgang des ruhenden Verkehrs in allen Stadtteilen Flächen frei, die bebaut, bewohnt, bewirtschaftet und bespielt werden könnten. Und noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren sprechen für die Einführung eines benutzerunabhängig finanzierten öffentlichen Nahverkehrs, weil sie innerhalb der Kommune volkswirtschaftliche Rendite generieren – so hat der benutzerunabhängig finanzierte ÖPNV dort, wo er bisher eingeführt wurde, zu einer Aufwertung der Innenstadt und weiterer zentraler Orte geführt. In der Regel profitiert außerdem der Fremdenverkehr massiv vom benutzerunabhängig finanzierten ÖPNVals Werbeargument. In Frankfurt, das nicht nur Touristik- sondern auch Messestadt ist, wäre dies in vielfach potenzierter Form zu erwarten. Auch für Unternehmen kann der benutzerunabhängig finanzierte ÖPNVein Standortfaktor sein und als Argument bei der Werbung von Fachkräften dienen.

Finanzierbarkeit eines benutzerunabhängig finanzierten ÖPNV

Das häufigste Argument gegen den benutzerunabhängig finanzierten ÖPNV ist die Sorge, dass dieser aus dem bestehenden Etat bestritten werden und man deshalb Einsparungen in anderen Bereichen der kommunalen Daseinsvorsorge in Kauf nehmen müsse. Das stimmt jedoch nur, wenn man sich nicht gleichzeitig Gedanken über die Steigerung kommunaler Erträge zur nutzerunabhängigen Finanzierung des ÖPNV macht. Heute schon wird der ÖPNV in Frankfurt fast zur Hälfte benutzerunabhängig finanziert durch die Frankfurter Strom-, Gas- und Wasserkunden der Mainova, da der Mainova-Gewinn über den Stadtwerke-Verbund die Defizite der VGF deckt.

Zunächst entsteht durch die Einführung eines benutzerunabhängig finanzierten ÖPNV eine ganze Reihe von Einsparungen:

Der Anteil für die Vertriebs- und Kontrollinfrastruktur eines kostenpflichtigen ÖPNV (Fahrscheinautomaten, Tickets, Fahrscheinkontrollen, Mahnbetrieb etc.) stellt zwischen 8 und 15 Prozent der Gesamtkosten dar. Eine fahrscheinlose Fahrt im Tarifgebiet 50 würde diese Aufwendungen vermeiden. Einsparungen würden sich auch durch Verschiebungen im Modal Split und eine geringere Belastung durch den MIV ergeben. Dazu gehört zunächst eine ehrliche Bewertung der Kosten, die durch den MIV entstehen und von uns allen getragen werden. Sie reichen über die Finanzierung von teuren Straßenbauprojekten und Instandhaltungen über den Verlust an Lebensqualität durch immer knapper werdende öffentliche Räume bis hin zu gesundheitlichen Belastungen durch Lärm und Feinstaub, und schließlich den schwerwiegenden gesamtgesellschaftlich getragenen Folgen zunehmender CO2-Emissionen. In Frankfurt wird dieses Argument noch durch den hohen Anteil an Pendlerinnen und Pendlern verstärkt. Hier müsste man darauf hinwirken, […] dass die Leute, die von außen kommen und […] nur Leistungen wie das Straßennetz in Anspruch nehmen und gleichzeitig »Negativleistungen« wie Luftverunreinigung und Lärm hinterlassen, dass diese Leute auch zur Finanzierung der Zentralstadt beitragen würden. [3]

Einnahmen: Um eine Gleichbehandlung von MIV und ÖPNV zu erreichen, ist die Etablierung eines Erschließungstatbestands ÖPNV analog zur Finanzierungsregelung bei Straßenerschließungen zu fordern. Erschließungsbeiträge werden von den Eigentümern der Anrainergrundstücke erbracht und sind eine reine Kommunalabgabe.

Darüber hinaus kann zur Deckung des Aufwands für die Schaffung, Erweiterung und Erneuerung des ÖPNV von allen Grundstückseigentümern, die eine dauerhafte Möglichkeit der Inanspruchnahme des ÖPNV haben, ein Beitrag erhoben werden. Eine solche Kommunale Infrastrukturabgabe sollte je nach Grad der Anbindung an das Streckennetz des ÖPNV abgestuft werden.

Durch die Einführung einer Unternehmenspauschalabgabe ähnlich wie die taxe versement transport (jedoch mit dem Unterschied, dass nicht die Lohnsumme, sondern die Wertschöpfung als Grundlage dienen sollte), könnten die für die Unternehmen bestehenden Vorteile des ÖPNV abgeschöpft werden.

Mit einer Nahverkehrsabgabe in Form einer Pauschale (kommunale Aufwandssteuer) pro Bett und Übernachtung für Gäste von Beherbergungsbetrieben wiederum könnten die für die Besucherinnen und Besucher der Stadt Frankfurt am Main bestehenden Vorteile in Anrechnung gebracht werden.

Die Einführung einer Citymaut könnte ein wichtiger Baustein zur Finanzierung des ÖPNV sein und gleichzeitig zur Reduzierung des Autoverkehrs beitragen. Die Citymaut muss sozialverträglich gestaltet werden, damit Menschen, die auf ihr Auto angewiesen sind, nicht zu sehr belastet werden.

Weitere politische Steuerungsinstrumente zugunsten einer stärkeren Nutzung klimafreundlicher Verkehrsmittel wären eine veränderte Parkraumbewirtschaftung, im Sinne einer deutlichen Vermehrung autobefreiter Kernbereiche (Fußgängerzonen) in den Quartierszentren und einer Ausweitung von verkehrsberuhigten Zonen.

Fußnoten

  1. Die taxe versement transport ist eine in Frankreich übliche kommunale Transportsteuer für die Bereitstellung des ÖPNV. Die Pauschale wird auf die Bruttolohnmasse angewandt und kann entsprechend der Einwohnerzahl einer Kommune bis zu 2,6 Prozent der Bruttoarbeitsentgelte betragen.
  2. Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), Einkommensarmut in Deutschland aus regionaler Sicht, Köln 2014
  3. Aus einem Interview mit Boris Palmer, GRÜNER Oberbürgermeister der Stadt Tübingen. In: ZAK3 (Hg.), TüBus umsonst!, Tübingen 2010

Antragsteller*innen

  • Stadtv. Carmen Thiele
  • Stadtv. Dominike Pauli
  • Stadtv. Lothar Reininger
  • Stadtv. Luigi Brillante
  • Stadtv. Martin Kliehm
  • Stadtv. Merve Ayyildiz
  • Stadtv. Dr. Peter Gärtner
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