Gedenktag an die ersten Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Frankfurt

Kontext: Wortprotokoll über die 12. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt am Donnerstag, den 23. März 2017 (16.00 Uhr bis 22.54 Uhr), TOP 7, Gedenktag an die ersten Deportationen jüdischer Mitbürger aus Frankfurt in Konzentrationslager

Stadtverordneter Martin Kliehm, Fraktion DIE LINKE. im Römer:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Herr Popp hat vorhin schon gesagt, dass es ihn zornig macht, wenn es heutzutage noch Menschen gibt, die als Alterspräsident des Deutschen Bundestages gehandelt werden und den Holocaust tatsächlich leugnen. Das zeigt umso mehr, wie wichtig ein solcher Gedenktag ist. Auf der kommunalen Ebene hat mich ganz persönlich gestört, dass die BFF dem Antrag nur mit der Maßgabe zustimmt, die EZB möge doch bitte die Kosten übernehmen. Ich möchte hier in meinem Vortrag betonen, dass die Stadt Frankfurt und die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Frankfurt die Verantwortung haben und eben nicht eine supranationale Europäische Zentralbank.

(Beifall)

Die Stadt Frankfurt war beteiligt und hat sich bereichert. Die erste Deportation in Frankfurt am Main fand am 19. Oktober 1941 statt und betraf mehr als 1.100 Personen. Fast alle, die an diesem Tag verschleppt wurden, wohnten im Westend, dem besten Viertel der Stadt. Ihnen wurde der Besitz abgenommen. Der damalige Gauleiter hatte sich schon im Vorfeld versichert, dass er zuständig für die „Verwendung von Judenwohnungen“ ist.

Es ist kein Zufall, dass damit im Westend zuerst begonnen wurde. Am Morgen des 19. Oktober 1941, einem Sonntag, drangen ohne jede Vorwarnung zwischen 6.00 Uhr und 7.00 Uhr morgens bewaffnete SA‑Angehörige in die Wohnungen jüdischer Familien ein. Die Betroffenen hatten innerhalb von zwei Stunden ihre Wohnungen zu verlassen. Außerdem hatten sie sich selbst ein Schild um den Hals zu hängen, auf dem ihr Name und ihr Geburtstag sowie ihre Kennnummer anzugeben waren. Das war wie ein Schandschild aus dem Mittelalter, beschrieben es Zeitzeugen. Jede Person hatte eine achtseitige Vermögenserklärung auszufüllen, mit der der Besitz auf das genaueste abgefragt und als volks- und staatsfeindliches Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen wurde.

Viele der Opfer dieses brutalen Übergriffs sahen keinen anderen Ausweg, als sich selbst zu töten. Die anderen wurden dann zur städtischen Großmarkthalle transportiert, deren Keller von 13.00 Uhr an diesem Tag bis zum folgenden Mittag der Gestapo zur Verfügung stand. Sie mussten das Gebäude, den Keller, vom Ostflügel her über die jetzt in die Gedenkstätte integrierte Rampe betreten, dann wurden sie etwa 300 Meter unter der Großmarkthalle entlang zu den Lagerräumen im Süden geführt. Zuerst kamen sie zu einer Annahmestelle, bei der sie in eine Liste eingetragen wurden, dann ging es zur Gepäckdurchsuchung mit brutaler Leibesvisitation. Danach kam das Finanzamt und verlangte die Abgabe der Vermögensliste sowie der Wertgegenstände mit einem in der Wohnung erstellten Verzeichnis und des Wohnungsschlüssels mit genauem Adressschild. Dann mussten die Betroffenen die Lebensmittelkarten hergeben, die Kennkarten wurden „evakuiert“ gestempelt, das Bargeld musste ausgehändigt und letztendlich der Abschluss dieser Kontrollstation bestätigt werden. Es handelte sich um eine ganz gezielte Bereicherung an unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.

Im Keller der Großmarkthalle – wir haben es schon gehört – kam es zu schweren Misshandlungen und auch zu Todesfällen. Sie können heute teilweise auf den Stolpersteinen Namen der Betroffenen lesen mit Angaben, wann sie geboren und ermordet wurden. Der Ort der Ermordung, Minsk oder Lodz, ist manchmal ebenfalls angegeben. Aber es ist tatsächlich nicht so, dass sie dort unmittelbar hinkamen und sofort ermordet wurden. Viele hatten eine lange Odyssee hinter sich bringen müssen. Beispielsweise mussten am Morgen des 20. Oktober dann die mehr als 1.100 Menschen in Einzelabteile des Personenzuges auf den Gleisen der Großmarkthalle einsteigen. Dieser Zug fuhr nach Lodz im besetzten Polen.

Fritz Schafranek, ein Überlebender dieser Deportationen, berichtete: Wir wurden in Auffanglager gebracht in Schulen, die wegen uns geschlossen worden waren. In dem strengen Winter 1941/1942 starben aus dem Frankfurter Transport besonders alte Menschen wegen ständiger Unterernährung, in den ersten sechs Monaten etwa 200. Die Gettochronik notierte auch mehrere Selbstmorde von Frankfurtern. Von den etwa 885 Frankfurterinnen und Frankfurtern, die im Mai 1942 noch im Getto lebten, wurden schließlich mehr als 500 verschleppt und nach Kolo transportiert. Dort mussten sie am Bahnhof aussteigen und zwei Kilometer durch die Stadt zum Marktplatz laufen. Sie wurden dann in Lkws nach Chelmno transportiert. Dort war in einem Herrenhaus seit Januar ein Vernichtungslager eingerichtet worden, in dem die Menschen in Gaswagen, in die etwa 50 Personen passten, auf der Fahrt in das vier Kilometer entfernte Waldlager getötet wurden. Jüdische Häftlinge waren gezwungen, die Leichen aus den Wagen zu entladen, sie nach Wertsachen zu durchsuchen, ihnen Goldzähne zu ziehen, Ringe abzunehmen und sie dann in Massengräber in mehreren Reihen übereinander zu legen. Später wurden die Massengräber wieder geöffnet, die Leichen verbrannt und die Knochenreste mit einer Knochenmühle zermahlen.

Von den mehr als 1.100 Menschen, die am 19. Oktober 1941 aus ihren Wohnungen im Frankfurter Westend verschleppt worden waren, erlebten 1945 nur drei ihre Befreiung. Es gab noch ungefähr 26 weitere größere Transporte, sogar bis März 1945, die dokumentiert sind. Bei den späteren Transporten waren wegen Unstimmigkeiten zwischen SA und Gestapo auch die Frankfurter Kriminal- und Schutzpolizei eingesetzt. Bei dem dritten Transport am 22. November 1941, bei dem 992 Menschen abtransportiert wurden, wurde als Kriterium eine Abhängigkeit von der Fürsorge zugrunde gelegt. Es wurden also beim zweiten Transport viele Familien mit Kindern abtransportiert, im dritten solche, die von städtischer Fürsorge abhängig waren. Im April 1942 notierte der Beauftragte der Gestapo im Hinblick auf die Fürsorgeleistungen: Hervorgerufen wurden die Einsparungen in erster Linie durch die Evakuierungen im Oktober und November 1941. Diese machten mehr als 20 Prozent aus.

Wir sehen also, die Stadt Frankfurt hat sich mittelbar und unmittelbar bereichert. Ein solcher Gedenktag ist notwendig. Viele haben eine wahre Odyssee hinter sich. Herr von Wangenheim hat es genannt, viele hier in Frankfurt wissen noch nicht einmal, was die Stolpersteine bedeuten. Wir haben erst 1.000 Stolpersteine in Frankfurt, obwohl mehr als 12.000 Frankfurterinnen und Frankfurter von den Nazis ermordet wurden. Sie haben oftmals eine Odyssee hinter sich, beispielsweise wurde Werner Levi ins Getto Minsk verschleppt. Dorthin ging der zweite Transport. Er überlebte, Gott sei Dank, dreizehn weitere Lager. Die KZ Slerjanka, Minsk, Majdanek, Budzyn, Szechochw, Plaszow, Wieliczcka, Flossenbürg, Colmar, Natzweiler, Sachsenhausen, Braunschweig, Neuengamme, Bremen-Blumenthal und Bergen-Belsen, wo er dann 1945 befreit wurde. Viele hatten jahrelang eine Odyssee hinter sich. Deswegen ist es auch wichtig, dass die Stadt Frankfurt sich an dieser Verantwortung beteiligt.

Ich möchte noch einen kleinen Abstecher machen auf die aktuelle Zeitpolitik. Sie konnten es diese Woche in der Zeitung lesen. Ich halte es für genauso wichtig, nicht nur an der Großmarkthalle zu gedenken, sondern auch an anderen Orten. Wir müssen uns mit den Kindertransporten auseinandersetzen, die von Frankfurt ausgegangen sind. Aber das ist eine andere Diskussion.

Ich möchte schließen mit einem Zitat von Professor Dr. Salomon Korn aus seiner Rede zum 9. November 2015, dort sagte er: Brennende Asylunterkünfte, Pegida-Demonstrationen und Hass-Mails im Internet mahnen dennoch zur größter Vorsicht. Längst wird gezündelt. Lasst uns fest zusammenstehen und sämtlich der Demokratie zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um die weitere Ausbreitung der gefährlichen Glut aus Vorurteilen und Aggression zu verhindern. Information und Aufklärung, ein Bewusstsein zu schaffen, das muss unsere Aufgabe sein, aber auch der Kampf gegen Rechts. Frauke Petry ist zu Recht heute in Frankfurt nicht willkommen und auch sonst an keinem anderen Tag. Das müssen der Magistrat, die Stadtverordnetenversammlung, das Jüdische Museum, die Bildungsstätte Anne Frank wie auch engagierte Antifaschistinnen und Antifaschisten auf der Straße immer und immer wieder betonen und jeden Tag erneut dagegen kämpfen.

Vielen Dank!

(Beifall)

[Zitate aus Monica Kingreen (Hrsg.), „Nach der Kristallnacht“, Campus-Verlag, 1999]

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