Auf dem Weg zur Einheitsschule oder auf dem in die Perspektivlosigkeit in der Bildungspolitik?

Wir brauchen in Hessen eine längere Grundschulzeit für alle Kinder

Das deutsche Schulsystem ist obsolet, entspricht nicht mehr den Anforderungen einer modernen Gesellschaft und ist daher stark reformbedürftig. Die letzte OECD-Studie zeigte wieder, dass in Deutschland der familiäre Hintergrund immer noch über Schulkarriere und -erfolg der Kinder entscheidend ist. Es ist Aufgabe der Politik, diesem Missstand entgegenzuwirken.

Deutschland hat unter den OECD-Ländern die kürzeste Grundschulzeit – nur 4 Jahre. Im Alter von 10 oder 11 Jahren werden Kinder streng auf verschiedene Schulformen verteilt. Kein Kind kann in diesem Alter eine eigenständige Entscheidung über seine weitere Schulkarriere treffen. Daher ent­scheiden die Eltern für das Kind. Kinder von den oberen Schichten gehen somit meist auf Gymna­sien, Kinder der unteren gesellschaftlichen Schichten werden aussortiert und gehen auf andere Schulen, wo sie oft nicht adäquat gefördert werden.

Dieses Schulsystem ist undurchlässig; bei einem Wechsel der Schulformen geht der Weg meistens nach unten. Kinder, die somit von Anfang an auf eine „schlechtere“ Schule gehen, haben in der Regel keine Chance zum Aufstieg. Aufgrund der verkürzten Grundschulzeit lässt das existierende Schulsystem Begabungs- und Bildungsressourcen brach liegen. Die viergliedrige Differenzierung spie­gelt nicht Bildungsangebote, sondern übersetzt die sozialen Hierarchien der Gesellschaft mit­tels Selektionsmechanismen in gleichfalls hierarchisch angeordnete Untersysteme. Sie betoniert damit die bestehenden Sozialstrukturen.

Dabei zeigen alle Bildungsstudien, dass die frühe Trennung nicht leistungsförderlich ist. Die angestrebte Elitebildung im deutschen Bildungssystem gelingt auf diese Weise ohnehin nicht. Kinder können in homogenen Gruppen weniger Lernanreize bekommen als in Gruppen mit verschiedenen Talenten und Begabungen. In den meisten europäischen Ländern beträgt die Grundschulzeit darum acht bis neun Jahre.

Von Klassen mit einer größeren Leistungsspanne profitieren Schwache wie Starke gleichermaßen – zumal, wenn im Unterricht „Binnendifferenzierung“ betrieben und Partnerarbeit gepflegt wird. Gute Schüler*innen erklären den Schwächeren den Lernstoff, wodurch soziales Verhalten rechtzeitig ge­lernt wird. Am besten versteht eins einen Zusammenhang, wenn es ihn anderen erläutert. Dadurch lernen auch gute Schüler*innen in Integrationsklassen viel. Nur das gemeinsame Erleben und Ler­nen von Kindern unterschiedlicher Herkunft mit vielfältigen Talenten, Neigungen und Fähigkeiten schafft wichtige und notwendige soziale Erfahrungen. Starke sind nicht nur stark und Schwache nicht nur schwach!

Durch das Prinzip der individuellen Förderung wird den einzelnen Kindern die Möglichkeit der schulischen Entwicklung lange offen gehalten. Die Lernschnellen sollen gemäß ihrer individuellen Leistungsfähigkeit gefördert und gefordert werden. „Spätzünder*innen“ können durchstarten, und Leistungseinbrüche werden „abgefedert“.

Um den Konkurrenzdruck zu vermeiden und das Selbstbewusstsein problematischer Schülerinnen und Schüler nicht zu schwächen, werden Zensuren später vergeben, in Schweden beispielsweise erst ab der 8. Klasse. Der Schüler oder die Schülerin bekommt eine Rückmeldung über den persön­lichen Lernzuwachs. Nicht der Vergleich mit dem Klassendurchschnitt ist entscheidend, sondern die Beratungsfunktion solcher Rückmeldung bzw. Zeugnisses soll im Vordergrund stehen. Auch dadurch findet eine Individualisierung statt. Versetzt wird nahezu jeder. Immer, wenn Schülerin­nen oder Schüler fachbezogene oder periodische Schwächen zeigen, ist eine gezielte Förderung angebrachter als die sture Wiederholung des gesamten Jahrgangsstoffes. Die Schule soll nicht stressen, sondern Spaß machen. Die Kinder sollen aus ihrem Erkenntnisdrang heraus lernen und nicht, um Ziffernoten zu bekommen oder sich gesellschaftlich zu positionieren. In Schweden errei­chen auf diese Weise 70% der Schülerinnen und Schüler die Hochschulreife – in Deutschland sind es dagegen nur knapp 40%. Dabei ist das Niveau der Abiturient*innen in Schweden mindestens so hoch wie das Niveau der oft als gutes Beispiel herausgestellten bayerischen.

Da im heutigen viergliedrigen Schulsystem nur die gymnasialen Zweige eine sichere Hochschulreife mit anschließendem Besuch einer Hochschule garantieren, wollen immer mehr Eltern, dass ihre Kinder nach der kurzen Grundschulzeit ein Gymnasium besuchen.

Über 50% der Viertklässler in Frankfurt wechseln inzwischen auf ein Gymnasium. Es ist eine nachvollziehende Entwicklung, da sich alle Eltern für ihre Kinder die bestmögliche Schulausbildung wünschen. So haben die Eltern, und nicht die Politik, die Hauptschule hinweggefegt. Sie haben diese Schulform nicht mehr nachgefragt. Es ist auch nachvollziehbar, da die Hauptschule heute den Kindern keine zukunftsorientierte Qualifikation mehr anzubieten vermag.

In einigen Stadtteilen Frankfurts wie dem Westend oder dem Nordend wechseln bereits fast 90% der Grundschulkinder auf ein Gymnasium. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren noch verstärken. Immer mehr Eltern auch aus sog. bildungsfernen Schichten und mit Migrationshinter­grund werden sich für ihre Kinder für das Gymnasium entscheiden. Warum auch nicht? Ihre Kinder, die in Fechenheim oder im Westen Frankfurts wohnen, sind bestimmt nicht dümmer als die Kinder aus dem Westend.

In Frankfurt wurde kürzlich ein neues Gymnasium eröffnet, nunmehr eine zusätzliche gymnasiale Oberstufe, und es reicht trotzdem nicht. Die Forderung nach einem eigenständigen, zusätzlichen Gymnasium wird immer stärker.

Somit befinden wir uns, entgegen den Beteuerungen der konservativen Politik, auf dem Weg zu einer „Einheitsschule“: dem Gymnasium.

Ist eine Einheitsschule wünschenswert? Wir denken nein, wir brauchen keine Einheitsschule, son­dern ein Schulsystem, dass die Vielfalt, die Begabungen und Talente der einzelnen Kindern in einer bis zum achten Schuljahr dauernden Grundschulzeit fördert. Erst nach diesem Grundschulabschluss sollen sich die Kinder für weiterführende Schulen entscheiden. Nach dieser Schulzeit sind sie bereits imstande, eine weitgehend selbständige Entscheidung gemäß ihrer Begabung und ihrer Talente zu treffen, sei es für eine Berufsschule oder ein Gymnasium.

Frankfurt ist die bevölkerungsreichste Stadt und der größte Schulträger in Hessen. Sie ist wirt­schaftlich und finanziell eine der bedeutendsten Städte in Deutschland überhaupt. Der Kommune dürfte daher dieser Mißstand nicht gleichgültig sein, sie muss vielmehr ihrem Anspruch gerecht werden und auch in der Bildungs­politik eine führende Rolle einnehmen.

Vor diesem Hintergrund möge die Stadtverordnetenversammlung beschließen:

  1. Der Magistrat setzt sich bei der neuen Landesregierung für eine umfassende Schulreform ein, welche die Vielfalt, Begabung und Talente der Kinder berücksichtigt und fördern soll.
  2. Der Magistrat setzt sich für eine Verbesserung der Chancengleichheit aller Kinder im Bildungs­system ein. Hierfür ist es unabdingbar, die Grundschulzeit von derzeit vier Jahren auf acht Jahren zu erhöhen.

Antragsteller

Stadtv. Luigi Brillante
Stadtv. Martin Kliehm
Stadtv. Herbert Förster

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