Foto: Demonstration des Deutschen Gehörlosen-Bunds am 14. Juni 2013 in Berlin, CC BY ELF Piraten Fraktion
Am 7. Juni veranstaltete der Landesverband Hessen der Gehörlosen in Frankfurt eine Podiumsdiskussion mit Landtagsabgeordneten fast aller Fraktionen zum Stand der Inklusion in Hessen; für die Piratenpartei nahm Petra Brandt teil, die selbst schwerhörig ist und wesentlich am Programm der Piratenpartei Hessen zur Inklusion mitgewirkt hat.
Erwartungsgemäß beriefen sich die Vertreter der Regierungskoalition von CDU und FDP auf den vermeintlichen Erfolg des Hessischen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und auf einige zaghafte Pilotprojekte. Die CDU betonte die Wahlfreiheit der Eltern, zwischen Förder- und Regelschule zu entscheiden, wobei freilich schon einmal Eltern derart verunsichert werden, dass sie sich dann lieber doch für eine Förderschule entscheiden. Eine Anfrage der Grünen im Hessischen Landtag ergab, dass jedem sechsten Kind, das auf eine Regelschule gehen wollte, eine Absage wegen mangelnder Ressourcen erteilt wurde; 2012 insgesamt 260 in Hessen, davon allein 39 in Frankfurt. Denn im Hessischen Schulgesetz ist ein Ressourcenvorbehalt verankert: kein Geld, keine Förderlehrkräfte oder keine Ausstattung – keine Menschenrechte.
An einigen Schulen wie der Frankfurter Ernst-Reuter-Schule II wird seit 25 Jahren Gemeinsamer Unterricht (GU) betrieben, wobei behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam in kleinen Klassen mit je einer regulären und einer Förderlehrkraft sowie der Unterstützung von SozialpädagogInnen unterrichtet werden. Der Gemeinsame Unterricht läuft nun aus, denn die Mittel auch für die Sozialpädagogik werden zusammengestrichen, die Klassenstärke von 23 auf 27 Kinder erhöht, und die Förderlehrerinnen und -lehrer sollen auf andere Schulen verteilt werden, weil dort ein Mangel an BewerberInnen besteht. Die Gewerkschaften und der Elternbeirat protestieren, doch die schwarz-gelbe Landesregierung feiert sich lieber selbst für Erfolge, die nur auf dem Papier bestehen. Dabei muss sie sich fragen lassen, was sie unternommen hat, um diesen Mangel an Fachpersonal zu beheben? Die Bertelsmann-Studie errechnet 380 fehlende Stellen oder 27 Millionen Euro, die für eine inklusive Beschulung in Hessen notwendig wären.
Gleichzeitig ist die Rückschulquote von Förder- auf Regelschulen minimal, in Frankfurt beträgt sie konstant zwischen 1,6 und 3,3%. Dabei werden so ziemlich keine sinnes- oder körperbehinderten Kinder jemals rückgeschult, sondern zumeist nur Kinder mit Sprach-, Lern- oder Verhaltensauffälligkeiten, und von denen verbleiben jeweils 90-95% separiert in den Förderschulen. Deutschland ist Weltmeister der Selektion.
Hessen ist nach Niedersachsen das Bundesland mit der schlechtesten Inklusion: während vor der Einschulung knapp 90% der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine inklusive Kita besuchen, verringert sich ihr Anteil in der Grundschule auf 35% und in der Sekundarstufe I auf 12%. Die Arbeitslosenquote bei Schwerbehinderten lag im Mai 2013 bei 15,8%, ihre Chancen außerhalb von Behindertenwerkstätten auf dem ersten Arbeitsmarkt sind ausgesprochen schlecht. Sie gehen separat zur Schule, machen separat Ausbildung und arbeiten separat
, kritisiert Frank Martin, Leiter der Regionaldirektion Hessen der Agentur für Arbeit. In der freien Wirtschaft liegt der Anteil schwerbehinderter Beschäftigter in Hessen bei nur 4,4%.
Bei diesen miserablen Noten für die hessische Inklusionspolitik verwundert es nicht, dass der hessische Gehörlosenverband gestern stark mit mindestens 10.000 weiteren Gehörlosen und Freunden bei der zentralen Großdemonstration #dgsmachtstark vor dem Berliner Reichstag für die Umsetzung des Menschenrechts auf Gebärdensprache vertreten war. Der Forderungskatalog beinhaltet unter anderem:
- bilinguale Frühförderung
- Unterricht mit gebärdensprachkompetenten Lehrkräften
- barrierefreie Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben durch Bereitstellung von Gebärdensprachdolmetschung
- SMS-Notruf und barrierefreie Katastrophenwarnungen
- 100% Untertitelung von Fernsehsendungen – derzeit liegt der Anteil von Sendungen mit Untertiteln im Hessischen Rundfunk bei nur
17%20,3%, der zweitniedrigste Anteil unter den ARD-Anstalten knapp vor dem Schlusslicht rbb, obwohl Gehörlose seit 2013 Rundfunkgebühren zahlen müssen.
Auch das Frankfurter Netzwerk Inklusion will nach der erfolgreichen Großdemo im März 2012 nun für den 5. Mai 2014 wieder für das gemeinsame Ziel mobilisieren: „Eine Schule für alle“!
Deutschland und auch Hessen stehen wirklich schlecht da. Zu den genannten Zahlen habe ich Fragen, bzw. bin irritiert. Die genannte Untertitelquote ist falsch bzw. veraltet; es steht da auch keine Quelle. Laut Sign Dialog liegt sie nicht bei 17,3 sondern bei 20,3. Auch wenn das nur eine geringfügige Steigerung ist, so finde ich doch, dass die Angabe hier in dem Blogpost korrigiert werden sollte. Das Schlusslicht ist der RBB. Das ist traurig genug, aber ich finde schon, dass in so einem Artikel die Zahlen stimmen sollten.
„Die Arbeitslosenquote bei Schwerbehinderten lag im Mai 2013 bei 15,8%“. Ist damit Hessen gemeint oder Deutschland? In dem danach verlinkte Artikel von 2011 finde ich sie nicht. Dort steht: &bdwuo;Im November 2011 waren in Hessen insgesamt 167.261 Menschen als arbeitslos registriert, davon waren 12.994 schwerbehinderte Menschen. Dies entspricht einem Anteil der Schwerbehinderten an den Arbeitslosen von insgesamt 7,8 Prozent.“ Wo steht das mit den 15,8%? Für die Beschäftigenquote in der freien Wirtschaft wird hier in dem Artikel der Bundesdurchschnitt von 4% angegeben; in Hessen liegt er 4,4%. Auch diese Zahlen sind miserabel genug; die Darstellung vermittelt aber den Eindruck, als wäre (auch) hier Hessen Schlusslicht, was nicht stimmt.
Zu den Forderungen: Natürlich absolut d’accord – nur bitte mehr Mühe auf die Zahlen verwenden.
@Casi, danke für die Korrektur. Die Zahlen vom hr hatte ich auf der Veranstaltung am 7. Juni gehört, und die 4% in der freien Wirtschaft bezogen sich tatsächlich auf Gesamtdeutschland. In der Arbeitslosenstatistik beziehen sich die 7,8% auf die Gesamtzahl der arbeitslosen Menschen, nicht auf die Gesamtzahl der Menschen mit Behinderung. Die Quelle zu den 15,8% verlinke ich noch. 😉
Danke für die Korrektur. Das ist klar, worauf sich die 7,8 % beziehen. Was mich noch interessiert: Der Anteil schwerbehinderter Menschen an der Gesamtbeschäftigtenzahl ist in der freien Wirtschaft 4,4%, im öffentlichen Dienst liegt er in Hessen deutlich höher und Hessen ist da schon führend (so gesamtschlecht ist Hessen dann doch nicht). Wie hoch müsste der Anteil denn sein? 100% kann man ja nicht ansetzen, da das bedeuten würde, dass alle Beschäftigten schwerbehindert sind. Nun ist aber ein Unterschied, ob wir hier von 20% oder von 10% oder von 50% reden. Ich finde das auch wichtig in Hinblick auf das Ziel – allerdings vermute ich, dass sich das nicht so leicht rechnen lässt. Das gleiche Problem ergibt sich in Bezug auf „Anteil“ behinderter Kinder in der Schule. Die Kritik richtet sich gar nicht mal speziell gegen die Bewertung der Zahlen in diesem Artikel. Ich frage mich das generell bei Artikeln, wo von „Anteilen“ die Rede ist.
@Casi, ich habe nochmal nachgeschaut: Der Arbeitsmarktbericht vom Mai 2013 vermeidet tatsächlich, die reale Arbeitslosigkeit bei schwerbehinderten Beschäftigten zu nennen. Der Bericht listet aber auf Seite 5 eine Gesamtzahl von 932.000 beschäftigten und auf Seite 8 176.000 arbeitslose Schwerbehinderte auf (eine Seite zuvor sind es nur 173.000). Von den 3,27 Mio. Menschen mit Schwerbehinderung im erwerbsfähigen Alter stehen in Deutschland nach Angaben der Arbeitsagentur 1,1 Mio. dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, 176.000 Arbeitslose darunter entsprechen 15,89%, nach Schönrechnen durch Abzug der FrührentnerInnen immerhin noch 13,14%.
Was die inklusive Beschulung für Kinder mit Behinderung angeht: der Besuch der Regelschule sollte zur Regel werden. Inklusion bedeutet ja, dass die Gesellschaft und ihre Institutionen keine Barrieren mehr bilden und in der Lage sind, allen Menschen eine Teilhabe zu ermöglichen. Darum wäre der „Anteil“ von Kindern mit Behinderung in der Schule der gleiche wie in der Bevölkerung.
Wir sind noch am Anfang eines langen Weges. Ehrlich gesagt kenne ich aus meiner eigenen Kindheit und Jugendzeit niemanden mit Behinderungen, und erst jetzt beginnt die Schaffung eines Bewusstseins, was das tatsächlich im Alltag bedeutet. Das fängt u.U. schon in der Kindheit an und geht normalerweise bis ans Lebensende.
Gleichzeitig muss es aber keine unwürdige Qual sein, wenn die Gesellschaft entsprechende Voraussetzungen schafft. Damen und Herren Piraten, jetzt sind sie dran!
@ Martin Die Diskrepanz bei den Zahlen fiel mir auch auf. Hab mir das aber nicht im Einzelnen angeschaut. Ich möchte noch mal auf die Schwerbehindertenquote in Hessen zurückkommen.
„In der freien Wirtschaft liegt der Anteil schwerbehinderter Beschäftigter in Hessen bei nur 4,4%“.
Unklar ist mir worauf sich das „nur“ bezieht. Schaut man sich das im Ländervergleich an, dann liegt Hessen hier offenbar an zweiter Stelle und zwar vorne. Spitzenplätze im Ländervergleich hat Hessen hinsichtlich der Beschäftigung behinderter Menschen in der Landesverwaltung, wo der Anteil bei 7,89 Prozent liegt.
Selbstverständlich ist es nicht Aufgabe einer Oppositionspartei (sei sie im Landtag oder nicht), die Landesregierung zu loben, dennoch kommt mir dem Artikel einiges etwas sehr zu kurz. Dadurch, dass der Anteil in der Landesverwaltung im Artikel nicht erwähnt wird, gibt’s eine Schieflage. Impliziert (zumindest habe ich das so verstanden) wird, dass das Land Hessen quasi Schlusslicht sei, was zumindest in diesem Bereich nicht stimmt. Nur mal angenommen, das Land Hessen würde mit einem Schlag alle arbeitslosen Menschen mit Behinderung einstellen, dann läge die aktuelle Quote in der freien Wirtschaft ja immer noch bei „nur“ 4,4%. (aer, ich glaube, ich wiederhole mich jetzt) Das Land Hessen hat sich übrigens selber in 2001 zu einer eigenen Quote von 6% verpflichtet – soweit ich weiß als einziges Bundesland und erfüllt diese über. Eine Stelle beim Land Hessen scheint mir gegenüber einer Stelle in der freien Wirtschaft nicht das schlechteste zu sein :-).
„Was die inklusive Beschulung für Kinder mit Behinderung angeht: der Besuch der Regelschule sollte zur Regel werden. … Darum wäre der „Anteil“ von Kindern mit Behinderung in der Schule der gleiche wie in der Bevölkerung.“
Naja. Das steht für mich ja außer Frage und stimme da uneingeschränkt zu. Es wäre nur eben gut zu wissen, wie hoch der ist. Allerdings habe ich neulich irgendwo gelesen, dass bei immer mehr Kindern Förderbedarf diagnostiziert wird. Sodass ich denke, dass man hier allenfalls zu sehr groben Schätzungen kommen kann.
@Casi: Genau das meine ich: Schätzungen gehen von mindestens 10% Menschen mit Behinderungen in unseren westlichen Gesellschaften aus. OK, da das Risiko, eine Behinderung zu erwerben, mit dem Alter steigt, sind wahrscheinlich weniger im arbeitsfähigen Alter. Bei Behörden haben wir einen recht hohen Prozentsatz, genau wie Du sagst, bei Großkonzernen wird der auch noch ganz gut sein, aber bei mittelständischen Unternehmen ziemlich mies. Die zahlen lieber die Ablösesumme statt sich mit bürokratischen Details zu befassen. Und das ist genau der Punkt, für den ich unsere Landesregierung kritisiere, denn die jahrelange Haltung von CDU und FDP, der Markt werde das schon regeln, ist falsch! Mehr noch, er nimmt Diskriminierung billigend in Kauf. Hier brauchen wir eine wesentliche aktivere und deutlichere Haltung der nächsten Landes- und auch der Bundesregierung.