Keine Chance den Rechtspopulisten!

Die Schweizerinnen und Schweizer haben sich mehrheitlich gegen eine so genannte „Masseneinwanderung“ ausgesprochen, womit sie ihre Verfassung ändern möchten. Die Reaktionen darauf kritisieren einhellig die Abschottung von Europa und einen Rechtsruck der Gesellschaft. Aber es ist komplizierter als das. Gleichzeitig stellt mehr Partizipation an politischen Entscheidungen eines der Grundversprechen der Piratenpartei dar. Gilt das uneingeschränkt auch dann, wenn die Abstimmenden Mist bauen?

Was besagt die Volksinitiative?

Kaum jemand wird den eigentlichen Text gelesen haben, hingegen ist es den Rechtspopulisten mit einer millionenschweren Kampagne gelungen, sie auf Schlagworte wie „Masseneinwanderung stoppen“ zu vereinfachen. Das Plakat schürt Ängste, wenn schwarze, anonyme Figuren über die Schweizer Nationalflagge trampeln.

Im Detail kritisiert eine Studie im Auftrag der schweizerischen FDP schon die Unschärfe des Zuwanderungsbegriffs. Allgemein verstehen wir darunter Migrationsbewegungen, die zur dauerhaften Niederlassung in einem Staat führen. Die Initiative fasst unter Zuwanderung jedoch alle Migrationsbewegungen zusammen, also auch Grenzgänger*innen, temporäre Aufenthalte sowie vorläufig Aufgenommene nach dem Asylgesetz.

Maßgeblich für die Aufenthaltsgenehmigung soll das gesamtwirtschaftliche Interesse der Schweiz sein, „unter Berücksichtigung eines Vorranges für Schweizerinnen und Schweizer“. Nachweise sollen erfolgen über den Antrag eines Arbeitgebers, die „Integrationsfähigkeit“ und eine „ausreichende, eigenständige Existenzgrundlage“. In Konsequenz möchte der Gesetzentwurf den Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt, den Familiennachzug und den auf Sozialleistungen einschränken.

Was ist daran falsch?

Demokratie-Upgrade ist eine der drei Kernforderungen der Piratenpartei für die Europawahl. Was ist also falsch an dieser Volksinitiative?

Die Kernforderung

Die Initiative verlangt, dass binnen drei Jahren völkerrechtliche Verträge wie das Freizügigkeitsabkommen neu verhandelt werden sollen. Die Verhandlungsspielräume sind jedoch begrenzt: die EU wird diskriminierenden Regeln nicht zustimmen. Damit steht nicht nur das Freizügigkeitsabkommen auf dem Spiel, sondern auch die sechs anderen damit verbundenen Bilateren Verträge zu Handelshemmnissen, Ausschreibungen, landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Land- und Luftverkehr sowie Forschung. Es ist unwahrscheinlich, dass die Schweiz so weit gehen wird.

Der Sponsor

Ein Milliardär steckt drei Millionen Franken in eine fremdenfeindliche Kampagne und bestimmt damit die öffentliche Wahrnehmung. Die anderen Parteien können nicht gegenhalten. Sind solche Manipulationen legitim?

Die Wahlberechtigten

Ein Grundsatz unserer Politik sollte sein, niemals Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu treffen. Nicht alle Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz durften abstimmen, sondern eben nur das priviligierte Staatsvolk. Bei einer Gesamtbevölkerung von 8,1 Millionen sind darum 1,9 Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit von der Wahl ausgeschlossen. Von den 5,2 Millionen Wahlberechtigten sind 55,8% oder 2,9 Millionen zur Wahl gegangen, davon haben 50,3% oder 1,46 Millionen mit „Ja“ gestimmt. Damit haben 18% der Bevölkerung über das Schicksal von 23,6% entschieden. Ist das noch demokratisch?

Wir brauchen legale Fluchtwege in die EU

Ist deshalb eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung fremdenfeindlich? Minderheitenschutz ist ein Schwachpunkt von populistischen Entscheidungen, wie sich bereits beim Minarett-Verbot zeigte. Geschürt werden Existenzängste von nationalistischen Parteien, die damit mehr Abstimmende mobilisieren können. In den Kantonen mit einem niedrigen Bildungsniveau fällt das auf fruchtbaren Boden, vor allem aber in der Mittelschicht. Auch in Deutschland führt soziale und finanzielle Abstiegsangst dazu, dass die bürgerliche Mitte vermehrt nach unten tritt, wie die Böll-Stiftung 2013 in einer Studie belegte. Die Gesellschaft entsolidarisiert sich, nicht nur in der Schweiz.

Im Tessin ist das Bildungsniveau zwar durchschnittlich, Existenzängste jedoch real aufgrund der Armutsgefährdung, die hier mit 29% der Bevölkerung am höchsten liegt – der Schweizer Durchschnitt beträgt 15,5%, ähnlich wie in Deutschland. Soziale Ängste gepaart mit Nationalismus: Im Tessin haben 68% der Abstimmenden für die Initiative gestimmt; die nationalistischen Parteien erreichten hier bei den Kantonalswahlen 2011 mit fremdenfeindlichen Parolen einen Anteil von 28,25% – populistische Entscheide appellieren an den Egoismus.

Über 90% der Menschen mit Migrationshintergrund in der Schweiz kommen aus der Europäischen Union. Am meisten Migrantinnen und Migranten gibt es aus Deutschland, Portugal, Italien und Frankreich, aus Südosteuropa kaum. Trotzdem schürt die SVP Ängste vor zunehmendem „Asylmissbrauch und Ausländerkriminalität“. In Wahrheit ist in den letzten Jahren das Verhältnis der einer Straftat beschuldigten Asylsuchenden verglichen mit ihrer Gesamtzahl um einige Prozentpunkte gesunken.

Aber ist die Abkehr von der Freizügigkeit wirklich so überraschend? So wie die Schweiz nun EU-Bürgerinnen und -Bürger aus ihrem Arbeitsmarkt exkludieren möchte, praktiziert die EU es schließlich selbst. Die Freizügigkeit für bulgarische und rumänische Staatsangehörige löste in Mittel- und Westeuropa regelrechte Panik aus!

Die Innenminister*innen predigen uns die Notwendigkeit von Milliardeninvestitionen in Grenzsicherungssysteme. Griechenland und Italien werden mit Verweis auf Sparvorgaben bei der Unterbringung von Flüchtlingen alleine gelassen, während die zentraler gelegenen Nationen Menschen auf Grundlage der Dublin-Abkommen abschieben.

Als Konsequenz aus den Katastrophen vor Lampedusa perfektionieren wir die Abschottung des Schengenraumes. Die intrasparente Grenzagentur FRONTEX schließt Geheimverträge mit Staaten wie Libyen ab, dass Schutzsuchende es gar nicht erst auf das Mittelmeer schaffen. Die Politik setzt weiter darauf, Ängste und Repressionen zu schüren, um Überwachungs- und Abschottungsmaßnahmen zu rechtfertigen. So werden wir aber einem friedlichen Europa mit dem erklärten Ziel der Freizügigkeit nicht näher kommen.

Sharing is caring

Der Gegenentwurf zu einer eigennützigen, nationalistischen Gesellschaft ist internationale Solidarität. Europa muss mehr werden wie das Internet: nationale Grenzen überwinden, Ressourcen miteinander teilen, Sozialneid abbauen. Dabei müssen grundsätzlich die Betroffenen selbstbestimmt beteiligt sein.

Um informierte Entscheidungen treffen zu können, verweist Marina Weisband auf die Möglichkeit, sie im Rahmen von Liquid Democracy an Fachleute zu delegieren. Das setzt aber voraus, dass mit der Delegation eine objektive, allen gerechte Lösung gesucht wird. Wenn die Motivation dagegen Eigennutz ist, wird das auch die Delegation widerspiegeln.

Populistische Abstimmungen mit gesetz- oder gar verfassungsändernder Wirkung bergen darum immer die Gefahr, dass Minderheiten diskriminiert werden. Ein zusätzlicher Korrektivfaktor, etwa die Kombination von direkter und parlamentarischer Demokratie mit einem ausgeprägten Diskurs (und Rückgrat der Abgeordneten!), sichert Minderheitenschutz wirksamer.

Erst wenn wir Menschen nicht mehr auf Grund der Drittstaatenregelungen oder Verteilungsschlüsseln innerhalb der EU abschieben, können wir echte Freizügigkeit leben. Kein Kontingent – egal welcher Höhe – kann jemals Schutzsuchenden gerecht werden. Ihre Zahlen richten sich nicht nach Nützlichkeit für die Mehrheitsgesellschaft, sondern sind Folge der zahlreichen humanitären Katastrophen dieser Welt. Das heißt auch, dass legale Fluchtwege in die EU geschaffen werden müssen, damit Menschen zu ihrem Recht auf Asyl kommen können.

Erst wenn wir uns nicht mehr gegenseitig die Verantwortung zuschieben und uns voneinander abzugrenzen versuchen, sondern Migration als eine gemeinsam zu fördernde europäische Aufgabe begreifen, werden Rechtspopulisten keine Chance mehr haben.

Dieser Artikel ist zusammen mit Anne Helm entstanden und wurde zuerst im Handelsblatt am 20. Februar 2014 veröffentlicht.

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