Koalitionsvertrag

Kontext: Wortprotokoll über die 3. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am Donnerstag, dem 16. Juni 2011 (16.07 Uhr bis 00.33 Uhr), TOP 5.2, Wahl einer/eines hauptamtlichen Beigeordneten

Stadtverordneter Martin Kliehm, DIE LINKE. im Römer:

Guten Abend!

Ich muss Herrn Oesterling zunächst einmal widersprechen. Ich habe den Koalitionsvertrag auch gelesen und auch verstanden.

(Beifall)

Denn der Koalitionsvertrag trägt sehr wohl die Handschrift der CDU, man kann nämlich in sehr vielen Punkten sehen, dass die Wirtschaftlichkeit vor dem Menschen steht. Insbesondere, wenn man mal zwischen den Zeilen liest. Als Konsequenz daraus, neben diesen Leuchtturmprojekten, kann man sehen, dass eigentlich alle die, die keine Lobby haben, auf der Strecke bleiben werden. Da sind so ein paar komische Sachen drin wie zum Beispiel, dass es mehr Erzieherinnen und Erzieher in Frankfurt geben soll und es soll auch einen städtischen Kindergarten geben, aber nicht etwa, dass diese Erzieherinnen und Erzieher mehr Geld bekommen, nein, sie sollen gefördertes Wohnen bekommen, weil sie nämlich mit dem jämmerlichen Gehalt, das sie bekommen, normale Wohnungen in Frankfurt gar nicht bezahlen können. Das heißt, hier werden prekäre Umstände gefördert, statt sie aufzuheben.

In dieselbe Richtung geht, Arbeitslose sollen zur Altenpflege umgeschult werden, weil wir jetzt keine Zivis mehr haben. Auch da würde ich eigentlich erwarten, dass Leute, die in Pflegeberufen tätig sind oder im Krankenhaus Höchst – kleiner Hinweis –, angemessen bezahlt werden. Das Größte war, Frankfurt ist so eine superkreative Stadt, da soll es ein Praktikantenwohnheim geben, weil Praktikanten gemeinhin überhaupt nicht bezahlt werden, die können sich das überhaupt nicht mehr leisten. Es fehlt nur noch, das Sie eine Fernsehsendung daraus machen.

Andere werden leider ausgegrenzt. Sie haben gesagt, Integration und Inklusion sind Ihnen sehr wichtig. Sie sagen im Koalitionsvertrag, inklusiver Unterricht soll, falls nötig, auch ohne Hilfe des Landes umgesetzt werden. Aber es hört dann eben bei den Kindern mit Behinderung auf, weil man dort erst einmal für den gemeinsamen Unterricht ein Pilotprojekt einrichten will und das Land Hessen in die Verantwortung nimmt. Ohne dass das Land Hessen dort etwas macht, werden wir also weiterhin Sonderschulen haben. Ich frage mich, wozu man noch Pilotprojekte braucht, wenn wir seit 20 Jahren Integrierte Gesamtschulen haben, wo das sehr wohl funktioniert.

(Beifall)

Ein kleiner Punkt: Im Wahlprogramm der GRÜNEN stand ursprünglich, dass die Behindertenbeauftragte direkt beim Büro der Oberbürgermeisterin angesiedelt werden sollte. Das ist jetzt im Koalitionsvertrag nicht mehr enthalten. Die Behindertenbeauftragte ist nach wie vor im Gesundheitsamt angesiedelt, krebst dort mit zwei Personen herum, ist keine Stabsstelle, ist kein Dezernat. Das heißt also – sehr schade –, dass dort weiterhin Menschen diskriminiert und ausgegrenzt werden. Auch wenn zugegeben sehr oft das Wort Barrierefreiheit in Ihrem Koalitionsvertrag vorkommt, bei der Schulbildung dürfen Sie nicht aufhören.

Sie haben zur Bürgerbeteiligung selbst in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass hier noch so manches im Argen liegt. Ich sage nur Campus Bockenheim oder jetzt auch das Henninger‑Areal, zu dem wir neulich einen Antrag vorliegen hatten, wo es hieß, bei dem Henninger‑Areal, da wurde sich mit Investoren und mit Geschäftsleuten getroffen, aber von Bürgern war dort keine Rede. Ich hoffe, Sie versäumen das in Zukunft nicht.

Die Frau Oberbürgermeisterin hat bei der Frankfurter Rundschau neulich gesagt, was das Wohnen auf dem Uni‑Campus angeht – ich sage bewusst nicht Kulturcampus –, der Erhalt des Philosophikums sei schon im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Das ist leider nicht der Fall. Im Koalitionsvertrag steht, es soll geprüft werden, ob das Philosophikum erhalten werden kann. Das ist ein himmelweiter Unterschied. In dieser Form haben wir sehr oft Relativierungen in diesem Koalitionsvertrag, was sich auch von dem Uni‑Campus durchsetzt in die weitere Stadtplanung. Zum Thema Stadtplanung steht dort, sie soll so sein, dass weitere Unternehmen angesiedelt werden. „Weitere Unternehmen“, also Wirtschaft vor Menschen. Ich würde eigentlich erwarten, dass wir Stadtplanung für die Bürgerinnen und Bürger von Frankfurt machen, dass wir mehr Lebensqualität haben, und nicht, dass sich nur irgendwelche Unternehmen hier ansiedeln.

Der Kollege von der LINKE. hat es schon erwähnt, so ein Knackpunkt ist eben auch das mit dem Klimawandel in Frankfurt. Da widersprechen Sie sich. Auf der einen Seite wollen Sie Nachverdichtung, auf der anderen Seite, heute haben wir es in der Mail vom Deutschen Wetterdienst – Zukunftsstudie Frankfurt, Klimawandel 2020 bis 2050 – gelesen, ist das Einzige, wie wir die Erwärmung von Frankfurt halbwegs aufhalten können, nämlich nur halb so viel Sommertage mehr, indem wir mehr Grün haben. Das verträgt sich definitiv nicht damit, dass wir alle Grünflächen zupflanzen mit irgendwelchen Häusern, die wir dazwischen bauen. Das ist definitiv der falsche Weg. Zum Museumspark sage ich an dieser Stelle nichts, darüber können wir nachher noch reden.

Sie sagten auch im Koalitionsvertrag, dass in Vierteln, in denen der Mietdruck besonders hoch ist, durch Erhaltungs- und Milieuschutzsatzungen die Bewohner weiterhin geschützt werden sollen. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass sich diese Satzungen weitgehend als zahnlos erwiesen haben. Wie wollen Sie das denn beispielsweise mit einer Milieuschutzsatzung im Nordend machen? Dort haben wir sehr arme Menschen, und wir haben die Lofts von den Neureichen. Welches Milieu wollen Sie denn dort erhalten? Das heißt, dort haben Sie ein zahnloses Instrument. Das Vorkaufsrecht der Stadt Frankfurt häufiger in Anspruch zu nehmen wird nicht gelingen, Sie können das momentan schon gar nicht, weil Ihnen das Personal dazu fehlt.

Bei den Grundstücken haben Sie betont, dass sie nicht mehr verkaufen, sondern grundsätzlich in Erbpacht vergeben werden sollen. Dann bin ich etwas überrascht, dass zum Beispiel bei solchen Leuchtturmprojekten wie dem Campus Bockenheim oder dem Atzelbergplatz, auf dem sogar ein Leuchtturm errichtet werden soll, die ABG erst einmal nur als Investor auftritt, danach ist es aber durchaus geplant, diese Gebäude weiterzuveräußern. Das heißt also, da steht nichts in Erbpacht. Verwunderlich ist auch, dass in Atterberry zuerst die Siedlung gebaut wird und dann später irgendwann einmal vielleicht die Lärmschutzwände. Da ist in Ihrer Planung einiges durcheinandergegangen. Ich bin gespannt, wie es wird, wenn die GRÜNEN den Planungsdezernenten stellen.

Aber auch sonst gibt es viele faule Kompromisse, auch im Verkehr. Der eigentliche Punkt war ja die Verkehrsplanung. Sie haben zum Beispiel die Stellplätze erwähnt, für die uns das Land Hessen die Stellplatzablöse gestrichen hat. Sie wollen Regelungen zu Stellplätzen, aber bitte nur, wenn keine Investitionshemmnisse entstehen. Das ist wieder so etwas, ja, wir möchten es, aber bitte bitte tue uns nichts Böses. Diese Halbherzigkeit zieht sich durch den gesamten Koalitionsvertrag, was ich sehr enttäuschend finde. Genauso ist es bei dem Innenstadtplan. Eigentlich gab es einen breiten Konsens, dass diese zerschneidenden großen Straßen wie die Berliner Straße, die Kurt-Schumacher-Straße und das Mainufer zurückgebaut werden. Dann muss ich im Koalitionsvertrag lesen, dass der Innenstadtplan unter einer grundsätzlichen Beibehaltung der heutigen Verkehrsführung erstellt wird. Also nichts mit Einbahnstraßen an der Berliner Straße oder am Mainufer, nein, die heutige Verkehrsführung wird beibehalten.

Zur Kultur wünschen Sie sich, dass Frankfurt die Buch- und Literaturstadt bleibt oder wird. Ich frage mich, wie sich das mit der Realität verträgt, wenn gleichzeitig der Suhrkamp Verlag als einer der größten Verlage in der Stadt Frankfurt verlässt und der Eichborn Verlag wackelt und sich überlegt, nach Berlin umzuziehen. Nur damit, dass Sie sagen, wir haben die Buchmesse und rufen jetzt Frankfurt zur Literaturstadt aus oder zur Hauptstadt der Literatur, damit ist es nicht getan, da müssen Sie noch ein bisschen mehr tun.

Zur Wirtschaft – ich bin Neuling in diesem Parlament und fand es etwas verwunderlich: Einer Ihrer Beschlüsse ist, dass die Nettoneuverschuldung nicht weiter steigen wird. Das gelingt Ihnen auch, aber gleichzeitig stellen Sie in Aussicht, dass für die Jahre 2012 bis 2014 die fundierten Schulden der Stadt Frankfurt um 1,37 Milliarden Euro auf 2,18 Milliarden Euro steigen werden. Das heißt, wir haben dann eine Pro-Kopf-Verschuldung in Frankfurt von 3.229 Euro. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 3.286 Euro. Wir haben uns immer so viel darauf eingebildet, dass Frankfurt gar nicht so hoch verschuldet wäre, aber irgendwo haben Sie da geschummelt. Gleichzeitig, das geht ja auch nicht auf dieses Schuldenkonto, zählen Schulden, die die Eigenbetriebe der Stadt Frankfurt aufnehmen, nicht dazu. Sie möchten aber in zweistelliger Millionenhöhe Kredite über die nächsten 30 Jahre für den Eigenbetrieb Stadtentwässerung aufnehmen. Da schummeln Sie.

Als Fazit kann ich sagen: Ihr Koalitionsvertrag hat sicherlich einige gute Abschnitte, aber in wesentlichen Punkten sind es halbherzige Kompromisse. Es werden weiterhin Menschen ausgegrenzt, insbesondere Kinder mit Behinderungen, die weiterhin separat beschult werden sollen. Das muss aufhören. Realisieren Sie die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Sie haben eine Stadtplanung unter überwiegend wirtschaftlichen Gesichtspunkten, was ich keineswegs als grüne Politik empfinde, und Sie haben intransparente und geheime Vereinbarungen. Sie sagen zum Beispiel zu den öffentlich-privaten Partnerschaften, ÖPP, sie sollen in jedem Einzelfall transparent auf ihre Risiken und Nutzen geprüft werden. Es tut mir leid, aber das, was wir bisher in diesen ÖPP-Projekten gesehen haben, war alles andere als transparent. Das hat den Titel Transparenz keineswegs verdient.

Mein Eindruck – um mit den Worten von Herrn Heuser zu reden: Wir wissen, was wir tun, halbe Kraft voraus, das scheint Ihr Motto für die nächsten fünf Jahre zu sein. Ich hoffe, Sie schaffen es, auf die volle Kraft hochzuregeln und nicht den Rückwärtsgang einzulegen.

Vielen Dank!

(Beifall)

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