Kontext: Wortprotokoll über die 45. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt am Donnerstag, dem 15. Oktober 2015 (16.00 Uhr bis 22:48 Uhr), TOP 7, Unterkünfte für Flüchtlinge
Stadtverordneter Martin Kliehm, DIE LINKE. im Römer:
Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Busch, erst einmal vielen Dank für die versöhnlichen Worte. Sie waren teilweise weniger konfrontativ, als ich es erwartet hatte, aber Danke. Frau Schubring, Sie haben nicht richtig zugehört oder vielleicht haben Sie auch nur das gehört, was Sie hören wollten, denn Frau Pauli hat keineswegs die Sozialdezernentin kritisiert. Sie hat gesagt, dass Herr Frank angekündigt hatte, zum Ortsbeirat nach Unterliederbach zu kommen, und dann nicht kam. Das hat sie kritisiert.
Herr von Wangenheim, dass das Polizeipräsidium total marode und verschimmelt ist und man dort keinen Menschen unterbringen kann, das müssten Sie wissen. Herr Mund, dass eine Notlösung in Turnhallen in Deutschland immer noch besser ist, als im Mittelmeer zu ertrinken oder an den Grenzen von Ungarn mit Wasserwerfern und Pfefferspray behandelt zu werden, das dürfte Ihnen wahrscheinlich auch klar sein.
(Beifall)
Ebenso müsste Ihnen klar sein, dass diese Mär von den sicheren Herkunftsländern, gerade im Balkan eben nicht funktionieren kann. Frau Ditfurth hat die Sinti und Roma angesprochen. Das sind keineswegs sichere Herkunftsländer in den Balkanstaaten und wir können auf Dauer auch nicht wegsehen. Wir kümmern uns jetzt sehr stark um Flüchtlinge, das ist sehr ehrenwert, aber – und da muss ich mich auch selbst an die eigene Nase fassen – wir laufen seit zwei, drei Jahren an den obdachlosen Sinti und Roma in Frankfurt vorbei und tun nichts. Da muss meines Erachtens auch humanitäre Hilfe geleistet werden.
(Beifall)
Davon abgesehen ist eine Einzelfallprüfung in wenigen Tagen keinesfalls möglich, denn es geht immer um das individuelle Recht auf Asyl und Anerkennung der Fluchtgründe. Das geht meines Erachtens nicht in sieben Tagen. Wir haben in unseren Antrag leicht provokativ – und das hat auch funktioniert – hineingeschrieben, man könne im Zweifelsfall Immobilien beschlagnahmen, das wurde nicht zuletzt vom grünen Oberbürgermeister in Freiburg vorgeschlagen. Die SPD in Hamburg macht es, die Koalition von SPD und CDU in Berlin macht es und in Berlin, Herr von Wangenheim, waren sie so schlau, dass sie leer stehende Luxusimmobilien und Spekulationsobjekte für die Unterbringung nehmen, und dafür, das kann ich Ihnen versichern, gibt es eine sehr große Unterstützung in der Bevölkerung, diesen Leerstand zu bekämpfen.
(Beifall)
Frau Busch hat das richtig gesagt, unser Antrag war als Prüfungs- und Berichtsauftrag formuliert, und meiner Kenntnis nach lassen es die Landespolizeigesetze von allen Bundesländern zu, im Zweifelsfall Immobilien zu beschlagnahmen. Frankfurt hat sehr viel Leerstand. Sie müssen nur einmal auf www.leerstandsmelder.de gehen, da können Sie sehen, dass zum Beispiel eine Hilfsorganisation, das Deutsche Rote Kreuz, das sehr engagiert in der Flüchtlingshilfe ist, zum Beispiel in der Königswarterstraße zwei Häuser hat, die seit Jahren leer stehen. Das eine erst seit relativ kurzer Zeit, das heißt, dort könnte man mit Sicherheit noch wohnen. Warum das dort leer steht und warum dort keine Menschen wohnen, müssen Sie das Rote Kreuz fragen. Da könnte man sicherlich einiges an Wohnraum gewinnen, und nicht nur für Geflüchtete.
Damit hört es aber eben auch nicht auf. Unser Antrag zum Nachtragshaushalt besagt auch, wir müssen eine Infrastruktur schaffen, denn mit Wohnraum ist es nicht getan. Als Nächstes fehlen Unterrichtsräume. Wir hören gerade beispielsweise von Berufsschulen in Wiesbaden, dass Lehrkräfte fehlen. Die Gewerkschaft GEW fordert alleine für Hessen 1.000 neue Stellen für Lehrkräfte. Die Kultusministerkonferenz hat gesagt, sie wollen jetzt 20.000 neue Lehrkräfte einstellen. Sie sagen aber leider nicht, wo die herkommen sollen oder wie es denn einmal mit Lehrkräften stünde, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Denn dann würden wir sehen, dass sich in den Schulen einiges ändert.
Ebenso fordert die GEW ein Recht auf einen Schulbesuch bis zum 21. Lebensjahr, denn es ist nicht damit getan, dass zwar die 16- bis 18 Jährigen noch einmal auf Berufsschulen gehen können, um dort die deutsche Sprache zu erwerben, aber die Älteren nicht. Darüber kann – insbesondere über den Spracherwerb – Integration gelingen, und die Schulbildung ist ein wesentlicher Punkt dabei.
Da, muss ich Ihnen sagen, erleben wir gerade ein kleines Wunder. In den letzten zwei bis drei Jahren gibt es Intensivklassen mit kleinen Lerngruppen, Mütter und Väter stellen sich in ihrer Freizeit als Lesepaten zur Verfügung, und sobald jemand Deutsch kann, darf er in die normale Klasse wechseln und wird integriert.
Wann bitte haben wir das jemals an deutschen Schulen gesehen, diese Durchlässigkeit nach oben? Das Kind aus dem Flüchtlingslager in Damaskus erlebt das jetzt gerade, und darüber bin ich sehr froh. Das müssen wir bewahren und etablieren. Seine Brüder aus dem Gallus und aus Griesheim haben das in den letzten 20 Jahren eben nicht erlebt.
(Beifall)
Sie wurden vom Gymnasium und vom Aufstieg in eine höhere Schulgruppe ferngehalten.
(Zurufe)
Fechenheim auch und Höchst, ich könnte jetzt noch eine Reihe von anderen Stadtteilen aufzählen, wo es kein Gymnasium gibt. Das ist nicht gegen das Gallusviertel oder Griesheim gerichtet, aber dort gibt es, wie Sie wissen, kein Gymnasium.
Das heißt also, mit viel Engagement und Improvisation schaffen momentan die Schulleitungen, die Lehrkräfte, die Erzieherinnen und Erzieher und die Eltern diese Integration, die wir seit 20 Jahren nicht hinkriegen. Der hessische Kultusminister hat auf die Frage, wie es denn nun mit den neuen Lehrkräften in Hessen so steht, gesagt, er hat gerade eine Fortbildung angeboten. Sie dürfen raten, wie viele Personen daran teilgenommen haben: Es sind 47 gewesen. Wo die anderen 953 herkommen, hat er uns noch nicht verraten. Das heißt, wir brauchen auf Dauer eine Durchlässigkeit des Schulsystems, auch nach oben. Wir brauchen die Inklusion, wir brauchen die intensive Beschulung. Das geht nicht, wenn wir am Ende immer sagen, im Haushalt soll eine schwarze Null sein. Das heißt, wir brauchen auch das Personal, nicht nur Lehrpersonal, und wir müssen auch bei der Stadt Frankfurt Stellen schaffen, und genau darum ging unser Antrag zum Nachtragshaushalt.
(Beifall)
Einmal konkret, Frau Professor Birkenfeld – Sie haben es angesprochen –, sicher, ich habe auch viel Gutes aus den unterschiedlichen Sporthallen gehört, aber wenn man sich umhört, erfährt man – ich hatte es in der vorletzten Sitzung des Ausschusses für Soziales und Gesundheit vor vier Wochen bereits angesprochen –, dass die Privatsphäre von Frauen durchaus ein problematisches Thema ist. Ich bin sehr froh, dass Sie darauf jetzt reagieren. Aber es gab zum Beispiel letzten Sonntag ein Treffen von Helfer*innen und Flüchtlingen, bei dem verschiedene Punkte genannt wurden, von denen ich Ihnen die wichtigsten jetzt vortragen möchte:
Dort wurde zum Beispiel von den minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen gesagt, sie hätten gerne einen Vormund, der sie vertritt. Natürlich haben sie einen Vormund, aber offenbar ist dieser Vormund dort in den Unterkünften für sie nicht sichtbar oder nicht ansprechbar. Das heißt, dort ist noch Potenzial nach oben. Die Erwachsenen vermissen Informationen und Aufklärung, etwa, wie lange sie noch in den Turnhallen bleiben müssen, wie es weitergeht, wie ihre rechtliche Situation ist. In Bezug auf Aufklärung kann dort noch einiges geschehen. Auch auf die Frage, wie es weitergeht, wurde geäußert, dass die Geflüchteten vor allem nicht von ihren Familien getrennt werden möchten und dass die überwiegende Mehrheit in Frankfurt bleiben möchte. Das kann ich nur vollends unterstützen. Ich hätte kein gutes Gewissen dabei, Flüchtlinge, die jetzt in Frankfurt angekommen sind, die hier gerade integriert werden, die vom Gesundheitsamt untersucht und registriert wurden, die in Frankfurt Impfungen erhalten haben, die schon in Sportvereine gehen, nach Sachsen zu schicken. Dabei hätte ich kein gutes Gefühl.
(Zurufe)
Auch der ländliche Raum ist keine Lösung. Dort gibt es vielleicht freie Wohnungen, aber nicht die notwendige Infrastruktur. Dort gibt es die Community nicht, dort gibt es den nächsten Supermarkt nur in Autoreichweite, dort gibt es in den Orten keine Schulen, es gibt keine Einkaufsmöglichkeiten, dort gibt es keine Sprachlernmöglichkeit, und dort gibt es eben keine anderen Menschen aus dem Land, mit denen man sich austauschen kann oder eben so viele helfende Menschen wie in Frankfurt. Deswegen denke ich, dass der ländliche Raum keine Lösung darstellt.
Ich bin aber sehr froh, dass unser Antrag so gut funktioniert hat. Wir wollten Sie provozieren. Herr von Wangenheim hat gesagt, wir müssen jetzt kreativ sein.
Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:
Herr Kliehm, Ihre zehn Minuten Redezeit sind vorüber.
(Zurufe)
Stadtverordneter Martin Kliehm, DIE LINKE. im Römer:
(fortfahrend)
Unser Antrag hat insofern funktioniert, dass Sie jetzt kreativ sind und überlegen, welche anderen Lösungsmöglichkeiten es gibt.
Vielen Dank!
(Beifall)
Gute Rede. Über eines würde ich allerdings nochmal nachdenken: der ländliche Raum bietet Platz, enge Nachbarschaft, Zusammenhalt und noch vieles mehr. Die Städte allein können das nicht stemmen. LG